Prof. Dr. Helmut Willems ist Professor für Allgemeine Soziologie und Jugendsoziologie im Zentrum für Kindheits- und Jugendforschung (CCY) der Universität Luxemburg.
Gesellschaftskritik und Protest
Politisches Engagement und Selbstverständnis linksaffiner Jugendlicher in Deutschland
Das Projekt beschäftigt sich mit politisch aktiven Jugendlichen, die sich selbst dem linken Spektrum zuordnen. Im Mittelpunkt der Studie stehen die Fragen, 1) welches Selbst- und Gesellschaftsverständnis diese Jugendlichen vertreten und wie sie dieses in ihrer politischen Praxis umsetzen, sowie 2) wie sich das politische Engagement der Befragten im Laufe ihrer Biografie entwickelt und entfaltet hat. Die befragten Jugendlichen erhalten die Möglichkeit, sich selbst darzustellen, ihr politisches Selbstverständnis, ihre Ziele und die von ihnen in Betracht gezogenen Handlungsformen zu beschreiben.
Zu den Verweisen
Datengrundlage und Methodik
Die Analyse basiert auf 35 qualitativen Interviews („PZI- problemzentrierte Interviews“) mit engagierten Jugendlichen aus ganz unterschiedlichen linksorientierten politischen Gruppierungen, vorwiegend aus Großstädten und Ballungsräumen in den neuen und alten Bundesländern.
Ergebnisse
Wer sind die engagierten, linksaffinen Jugendlichen und was wünschen sie sich?
„Ich hätte gern, für mich selbst und für alle Menschen, einen Zugewinn an […] Freiheit, an Bestimmung darüber, was passieren soll […]; Wie will ich mein Leben, wie wollen wir unser Leben gestalten oder unser Zusammenleben?“ (Interviewauszug aus Hillebrand et al., Politisches Engagement, 5. 86).
- Im Rahmen der Studie war es nicht möglich, eine homogene kollektive Identität oder einen konkreten Handlungsrahmen zu charakterisieren. Vielmehr unterschieden sich die Befragten stark in ihren Ansichten und Handlungsformen. Deutlich wurde auch, dass politische Orientierungen nicht starr sind, sondern einem permanenten Prozess der Reflexion und Veränderung unterliegen.
- Allen Befragten gemeinsam ist eine kritische Perspektive auf die Gesellschaft. Ein zentraler Bezugspunkt ist die Ungerechtigkeit, verstanden als die ungleiche Verteilung von Ressourcen und Chancen. Auch die Ökonomisierung aller Lebensbereiche und der unzureichende Umgang mit gesellschaftlichen Krisen werden genannt. Der übergreifende Interpretationsrahmen ist dabei häufig der Kapitalismus, der strukturierend auf alle gesellschaftlichen Bereiche wirkt.
- Die befragten Jugendlichen zeigen eine hohe Zustimmung zur Demokratie als politisches Ordnungsprinzip, äußern aber eine starke Unzufriedenheit mit dem tatsächlichen Handeln und den Strukturen der politischen Institutionen, denen nur eine geringe Integrität zugeschrieben wird.
- Verbunden mit dieser Kritik ist die Überzeugung, dass Krisenphänomene veränderbar sind. Soziale Gerechtigkeit, bessere Mitbestimmung, Toleranz gegenüber Minderheiten, der Abbau von Hierarchien und die Abkehr von kapitalistischen Prinzipien sind Ziele, die dem Engagement der Befragten zugrunde liegen. Die langfristige Veränderung von gesellschaftlichen Denkmustern und Werthaltungen wird als Voraussetzung gesehen, so dass ein großer Teil der Aktionsformen wie Flashmobs, Workshops und Vorträge auf die Aufklärung und Politisierung der Bevölkerung abzielen.
- Für die befragten Jugendlichen spielen neben Angeboten der alternativen politischen Bildung auch direkte Aktionsformen eine entscheidende Rolle. Dazu gehören Aktionen wie Blockaden, Besetzungen, Selbsthilfeangebote und Formen des alternativen Zusammenlebens.
Die biografische Entwicklung des Engagements
„[Die Familie] hat mich auf jeden Fall dazu gebracht, Zustände kritisch zu hinterfragen, und mir auch mehr Bildung, mehr Texte und so weiter mitgegeben, als die Schule das hat“ (Interviewauszug aus Hillebrand et al, Politisches Engagement, 5. 131).
- In dieser Studie schien das Engagement sehr voraussetzungsvoll zu sein. Es setzt bestimmte Ressourcen und Kompetenzen sowie die Einbindung in entsprechende Netzwerke voraus.
- Das Elternhaus spielt für den Einstieg in das Engagement eine große Rolle. Hier wird ein grundsätzliches Interesse an politischen und gesellschaftlichen Prozessen vermittelt sowie die Bedeutung von demokratischen Werten und entsprechender Partizipation. Die Schule hingegen vermittelt zwar politisches Wissen, wird aber von den Befragten nicht als förderliches Umfeld für eine aktive politische Beteiligung wahrgenommen.
- (Soziale) Medien und persönliche Kontakte (Peer-Group und Szenen) einerseits und Schlüsselereignisse im Leben der Befragten andererseits erwiesen sich als Einstiegsmöglichkeiten für ein Engagement. Darüber hinaus gab es auch Wege der langsamen Steigerung des Engagements, das z.B. im schulischen Bereich beginnt und durch die Erfahrung einer gewissen Wirksamkeit des eigenen Handelns an Dynamik gewinnt.
- Für die Befragten stellt das Engagement in vielen Fällen eine Erfahrung dar, die ihre gesamte Persönlichkeit und ihren Lebensweg langfristig beeinflusst. Politisches Denken und Handeln sowie ein gesteigertes Gefühl der Selbstwirksamkeit werden oft zu einem festen Bestandteil des Lebenslaufs. Das Engagement beeinflusst aber auch die Lebensführung: In einigen Fällen führt es zu längeren Studienzeiten oder zu Erschöpfungsgefühlen aufgrund einer hohen zeitlichen Belastung.